René Cardillac

Die Rolle der Kunst.

Das Cardillac-Syndrom

Cardillac kann den Gedanken, dass er seine Schmuckstücke nicht für sich behalten kann und andere seinen Schmuck anlegen dürfen, nicht ertragen. So tötet er die Käufer kurzerhand, um den Schmuck wieder zu erlangen und ihn dann in einem verborgenen, nur durch eine Geheimtür zugänglichen Gelass nur für sich allein zu genießen. Darin offenbart sich seine gesellschaftliche Schwäche: Indem er bis zum Mord geht, um sein Werk nicht mit der Allgemeinheit teilen zu müssen, zieht er die extreme Konsequenz seiner Eigensucht.

Künstler müssen, um von ihrer Kunst leben zu können, ihre Werke verkaufen, das heißt, sie müssen sich von ihnen trennen. Doch das fällt ihnen mitunter schwer, da ihre Kunst einen wichtigen Teil ihrer Identität darstellt. Schon Goethes Tasso vermag sich nicht von seinem dichterischen Werk zu lösen, da er nur darin sich selbst findet. Modernere Künstler behelfen sich vielfach mit sorgfältig geführten Erwerberlisten, gelegentlich auch mit vertraglichen Rückkaufsrechten. Arnulf Rainer zum Beispiel behielt sich das Recht vor, ein verkauftes Werk jederzeit aufsuchen und ändern zu dürfen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang in Anlehnung an E. T. A. Hoffmanns Novelle vom Cardillac-Syndrom.

René Cardillac ist der »geschickteste Goldarbeiter in Paris«. Er allein ist auch der Schmuckräuber und Mörder, hinter dem die Pariser Polizei eine ganze Bande vermutet.

»Eher klein als groß, aber breitschultrig und von starkem, muskulösem Körperbau«, ist er trotz seines Alters, er ist Ende fünzig, noch sehr beweglich und kräftig. Dieser Eindruck wird durch das »dicke, krause, rötliche Haupthaar« betont. Er gilt »in ganz Paris als der rechtlichste Ehrenmann, uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu helfen bereit«. Lediglich »sein ganz besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen« passt nicht so recht zu diesem Bild und »hätte ihn in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit bringen können«.

Er gilt zugleich als einer der »sonderbarsten Menschen seiner Zeit«, weil er Aufträge für viel zu niedrige Bezahlung annimmt, dann Tag und Nacht wie besessen daran arbeitet, sich anschließend aber nicht von dem Schmuck trennen will. Zudem gibt es einen ausgewählten Kreis von Menschen, von denen er gar keine Aufträge annimmt und zu denen auch die Marquise de Maintenon gehört. Niemand ahnt, dass er damit ihr Leben schützen will. Dies und alle übrigen Hintergründe seiner Geschichte erfährt man erst nach seinem Tod aus dem Bericht, den sein Geselle Olivier Brußon dem Fräulein von Scuderi gibt: Sobald er ein Schmuckstück widerwillig abgegeben hat, sucht sein »böser Stern« ihn heim und zwingt ihn nicht nur dazu, den Schmuck zurückzuholen, sondern auch dessen Besitzer zu töten. Dabei benutzt er einen geheimen Aus- und Eingang seines Hauses, durch den er auch Desgrais entwischt, der ihm bei einem seiner Raub- und Mordgänge dicht auf den Fersen ist.